Alle gleich – und doch wieder verschieden?

02.11.2022 | von Otto Kromer
Unsere Gesellschaft wird immer bunter und vielfältiger. Verschiedene religiöse, politische oder ideologische Anschauungen treffen alltäglich aufeinander.

Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen, mit unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Voraussetzungen und Begabungen leben neben- und miteinander. Arm und reich, alt und jung, Bildungsstand, sexuelle Orientierung und nicht zuletzt das Frau- und Mannsein gelten als die auffälligsten Diversitätsmerkmale in unserer Gesellschaft.

Dass wir Menschen verschieden sind, ist nichts Neues. Neu ist das allgemeine Bedürfnis, Individualität sichtbar zu machen. Und das wiederum erfordert ein gesellschaftliches Bemühen, das Zusammenleben zwischen den unterschiedlichsten Individuen und Gruppen so zu organisieren, dass es für alle fair und gerecht im Sinne von Gleichberechtigung und Gleichbewertung zugeht. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt uns, dass diese beiden Grundströmungen menschlicher Kultur, das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit wie das Bedürfnis nach Individualität und Autonomie, immer schon das Zusammenleben von Menschen bestimmt haben. Soziales Miteinander und die Betonung des Individuellen sind zwei Pole, die im Kleinen wie im Großen gut ausbalanciert werden müssen.

 

Im Wandel

Gegenwärtig erleben wir einen gesellschaftlichen Wandel mit weitreichenden Öffnungen. Sprachen und Kulturen mischen sich, traditionelle gesellschaftliche Milieus brechen auseinander und für die/den Einzelne*n eröffnet sich eine multikulturelle Welt, in der – so scheint es – alles möglich ist. Das Individuum ist herausgefordert, sich selbst nicht nur als einzigartig und unverwechselbar zu begreifen, sondern diese Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit in einer unübersichtlich gewordenen Welt entsprechend zu performen.

Sicht- und spürbar werden diese Veränderungen auch im Aufbrechen der traditionellen Geschlechterrollen. Weltweit sind feministische Bewegungen aktiv, um sich für die Rechte von Frauen und Mädchen stark zu machen und gleiche (politische) Beteiligung bzw. gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen in unserer männerdominierten Welt zu fordern. Auf der anderen Seite stellen auch immer mehr Männer fest, dass die Aufrechterhaltung von Macht- und Dominanzverhältnissen sehr viel Kraft kostet. Mitunter ist sie nur um den Preis von emotionaler Vereinsamung, gesundheitlicher Schädigung und Ausgrenzung aus familiären Binnenstrukturen zu erreichen. Sichtbar wird auch, dass es „die" Frauen und „die" Männer als homogene gesellschaftliche Gruppen nicht mehr gibt. Oft zeigen sich innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppe größere Unterschiede als zwischen Frauen und Männern. Das bedeutet aber auch, dass männliche wie weibliche Leitbilder derzeit immer vielfältiger werden und damit auch zur Herausbildung unterschiedlicher, individuell wie gesellschaftlich geprägter Geschlechterrollen beitragen.

Für Heranwachsende ergibt sich daraus ein sehr komplexes, vielschichtiges Gesellschaftsbild, das zum einen Lust auf persönliche Entwicklung machen, zum anderen aber auch Unsicherheit und Orientierungslosigkeit erzeugen kann. Ob sich nun ein Mädchen oder ein Bub auf einen „Experimentierpfad" begibt oder lieber an traditionellen Vorstellungen festhält, hängt nicht zuletzt von jenen Personen oder Gruppen ab, die sie oder er im alltäglichen sozialen Umfeld vorfindet. Und da kann die Jungschargruppe – neben Familie, Schule und anderen sozialen Räumen – eine bedeutsame Rolle spielen. Ist doch die Zugehörigkeit meist frei gewählt und gelten die daran beteiligten Personen doch im weitesten Sinn als Freund*innenkreis, die/der Gruppenleiter*in miteingeschlossen.

 

Genau hinsehen und ermutigen

Jetzt sind das heute aber keine sozial homogenen Gruppen mehr, sondern versammeln – als Spiegel der Gesellschaft – unterschiedliche Individuen mit unterschiedlichen Biografien und unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen. Die Herausforderung, die sich dem/der Gruppenleiter*in stellt ist jene, Gleichberechtigung und Gleichbewertung unter den Mädchen und Buben dadurch herzustellen, dass nicht alle zu allen Gelegenheiten „gleich" behandelt werden. Zögerliche brauchen Ermutigung, Vordrängler*innen müssen lernen Rücksicht zu nehmen, Risikofreudige sollen Grenzen akzeptieren, Ängstliche brauchen Sicherheiten, die Lauten müssen lernen zuzuhören und die Stillen brauchen Aufmerksamkeit, den Egos fehlen soziale Bezüge und die Angepassten brauchen Ich-Stärkung usw. Dementsprechend müssen auch die unterschiedlichen Interessen und Vorlieben in der Gruppe aufeinander abgestimmt werden. Was das bedeuten kann, weiß jede*r, die/der schon mal mit einer Jungschargruppe eine Woche lang auf Jungscharlager war.

Ähnliches gilt auch für die Geschlechterrollen. Wer mit den Mädchen und Buben traditionelle Rollenstereotype überwinden will, die/der muss in der Gruppenarbeit geschlechtssensible Akzente setzen: Mädchen darin ermutigen, sich „typisch männliche" Aktionsbereiche anzueignen und gleichzeitig Buben darin zu bestärken, sich für „typisch weibliche" Kompetenzen und Ressourcen zu interessieren. Was bedeutet das konkret? Geschlechtssensible Pädagogik bietet den Mädchen und Buben zunächst unterschiedliche, nach Geschlechtern getrennte Aktivitäten an, wo sie neues Rollenverhalten einüben und sich damit neue Kompetenzen aneignen können. Vertieft werden diese Erlebnisse und Erfahrungen durch einen bewusst angeleiteten reflexiven Austausch zwischen den Geschlechtergruppen, wodurch das veränderte Rollenverhalten in die Alltagsbeziehungen der Mädchen und Buben eingebunden und verfestigt werden soll. Für die Mädchen geht es dabei in erster Linie um technische Interessen, sportliche Betätigungen, Handwerkliches, Outdoor-Activities, Selbstsicherheit und der gleichen. Burschen sind herausgefordert, wenn es um kommunikative Prozesse, Selbstversorgung, Haushaltsführung, Empathie und soziale Bezogenheit, Tanz, Theater und künstlerische Betätigungen geht.

 

Mit Offenheit und Interesse

Vom Gruppenleiter und von der Gruppenleiterin ist also Diversity-Kompetenz und Diversity-Management gefordert. Das meint die Fähigkeit, Differenzen in der Gruppe wahrzunehmen, deuten zu können und passend darauf zu reagieren. Gender- und Diversity-Kompetenz zeigt sich vor allem in bestimmten Haltungen und Einstellungen den Mädchen und Buben gegenüber. Gruppenleiter*innen verstehen demnach ihr Zusammensein mit den Kindern als Begegnungs- und Austauschprozess, wo die je eigene Lebensweise, die eigene soziale und kulturelle Einbindung als eine mögliche von vielen verstanden wird. So begegnet der/die Gruppenleiter*in den Mädchen und Buben mit Offenheit und Interesse „auf Augenhöhe" mit der Bereitschaft, sich auf die Lebenswelten und Erfahrungen der Kinder ernsthaft einzulassen. Das Ziel dieser Gruppenarbeit heißt Inklusion. Das bedeutet die Hereinnahme von Unterschieden einzelner Begabungen und individueller Persönlichkeiten in das Gruppengeschehen ohne den Zwang zu allgemeiner Anpassung und Vereinheitlichung. Gleichberechtigung und Gleichbewertung von Verschiedenem heißt nämlich nicht Gleichmacherei, sondern bedeutet Respekt und Anerkennung der Unterschiede, der Individualität und des Andersseins.

 

Ein Artikel aus dem voll.bunt Heft vom September 2012, nach wie vor topaktuell.

 

Otto Kromer

war als Bildungsreferent an der Bundesstelle der Katholischen Jungschar Österreichs tätig.