BRASILIEN - Corona bremst die ganze Welt IV

05.05.2020 | von Luggi Frauenberger
Mit diesem Artikel der „Coronareihe“ kommen wir nach Brasilien. Der größte Staat Südamerikas ist seit Jahren von Ordnung und Fortschritt weit entfernt – und geht diesen Weg katastrophal konsequent weiter.

Brasilien, ein wunderbares Land versinkt im politischen Chaos

Das größte Land Südamerikas ist im freien Fall, was die Einhaltung der Menschenrechte, den Schutz der Umwelt und der indigenen Völker sowie auch die Wahrung der Sicherheit angeht.

Ein Grund, warum dieses wunderbare Land in einem riesigen Chaos zu versinken droht, ist der Präsident Jair Bolsonaro. Dieser frauen-, schwulen- und minderheitenfeindliche, rassistische und die Militärdiktatur liebende sowie evangelikalen Kirchen nahestehende Fanatiker scheint jedoch immer mehr in eine politische Krise zu geraten. Einige Minister, auch in der Bevölkerung geschätzte Leute, traten aus Protest gegen Bolsonaros Politik zurück. Und es mehren sich die Zeichen, dass ein mögliches Amtsenthebungsverfahren des Parlamentes oder des Obersten Gerichtshofes den Präsidenten Bolsonaro hinwegfegen könnte.

In der ZDF-Reportage von Christoph Röckerath vom 27. April ist der Zerfall der brasilianischen Regierung in Zeiten von Corona beschrieben. Die Frage ist, stürzt Bolsonaro? Kommt es dann, gerade in Zeiten, in denen das Land derart im Chaos steckt, in Brasilien doch zur totalen Machtübernahme der Militärs, die nicht (mehr) alle hinter Bolsonaro stehen?

Brasiliens Bischöfe warnen vor einer Rückkehr in die Diktatur!

 

Corona – nur eine Krankheit der Reichen?

Während sich in den ersten Wochen die Infektionen mehrheitlich auf die reichen Brasilianier*innen konzentrierten, die sich vor allem in Italien und Spanien im Urlaub angesteckt haben dürften, greift diese Krankheit nun zunehmend auch auf die anderen Gesellschaftsschichten über. Auch dadurch, weil viele Hausangestellte weiterhin in den Häusern der Reichen arbeiten dürfen. Grundsätzlich ist dies ok, weil sie dadurch auch das Einkommen für ihre Familien erarbeiten können. Der Haken an der Sache ist, durch fehlende Schutzmaßnahmen für die Angestellten verbreiten sich so die Infektionen auch in die Armenviertel, mit dem Unterschied, dass die reichen Brasilianer*innen krankenversichert sind und somit den Zugang zu privaten Krankenhäusern haben – die Armen nicht!

So wurde die 63 Jahre alte Hausangestellte Cleonice Gonçalves auch das erste Coronaopfer Brasiliens. Frau Gonçalves starb Anfang April. Es war an dem Tag, als ihre „Patroa“ erfahren hatte, dass der Coronatest bei dieser, nachdem die sich beim Carneval in Venedig angesteckt hatte, positiv war. Ein ebensolcher Test hätte vielleicht auch das Leben von Frau Gonçalves retten können, aber leider hatte und hat der Schutz der Armen in Brasilien noch nie Hochkonjunktur.

 

Favelas – wieder einmal auf sich selbst gestellt

In den großen Armenvierteln der brasilianischen Städte, den Favelas, zeigt sich auch während der Coronakrise, welche Mächte hier „für Ordnung“ sorgen. Neben Polizei und (Para-)Militärs sind es vor allem die Drogenkartelle und Gangs, die die Menschen hier unterdrücken. Gerade durch Corona zeigt sich die Absurdität der Situation in den Favelas. Während der Präsident und rechte Kreise die Ausgangssperren torpedieren, die von der Regierung Brasiliens verhängt wurden und von vielen Gouverneuren und den Polizei- und Militäreinheiten teils brutal durchgesetzt werden, sind es diesmal auch die Drogenkartelle und Gangs, die ihrerseits die Einhaltung der Schutzmaßnahmen gegen Corvid-19 in den Favelas unterstützen. „Wir verhängen eine Ausgangssperre, weil niemand die Sache ernst nimmt. Am besten bleibt ihr zu Hause und entspannt euch. Wer abends draußen spielt oder herumläuft, wird bestraft“, so die Warnung der Gangs, die abendlich mit Lautsprechern und in den sozialen Medien verbreitet wird.

Teilweise sind es auch die Drogenkartelle, die die Bewohner*innen der Favelas unterstützen, denn die vom Parlament beschlossenen Unterstützungen von rund 100 € pro Favelabewohner*in sind irgendwo, nur nicht bei den Menschen, die sie bitter nötig hätten.

Der DKA-Partner SER, welcher sich seit Jahren für Kinder und Jugendliche in Rios Favelas einsetzt, begleitet diese auch jetzt. Mehr dazu auf dem Blog der DKA.

 

Amazonien – in der grünen Lunge sterben Menschen und Kulturen

Amazonien, die Region des Amazonasflusssystems und als die grüne Lunge der Erde bekannt, ist seit einigen Jahren wieder verstärkt dem Raubbau und der Abholzung sowie der Brandrodung ausgesetzt. Bolsonaro steuerte seinen großen Anteil bei, dass dieser Teil Brasiliens nun noch stärker geplündert wird.

Wie schon oben Christoph Röckerath erwähnte, sind die Todeszahlen in Manaus, der Hauptstadt Amazoniens, besonders hoch. Diese Tatsache führt auch zu einer weiteren Problematik. Sonia Guajajara, Parlamentsabgeordnete und Exekutivkoordinatorin der Organisation APIB beschreibt es so: „Während viele Menschen in Quarantäne sind und die Organisationen zum Schutz der Indigenen darum kämpfen, dass die indigenen Völker möglichst abgeschirmt in ihren Gebieten bleiben, um nicht an Covid-19 zu erkranken, nehmen die Invasionen durch Bergleute und Holzfäller im Urwald zu und gefährden dadurch die Ansässigen zusätzlich!“ Alleine in den drei ersten Monaten des Jahres 2020 wurden 796,08 km² Regenwald abgeholzt – eine Zunahme der Abholzung von 51,45 % im Vergleich zu 2019!

Marta Azevedo von der Staatlichen Universität von Campinas sagt, dass neben dem Verlust von Menschenleben, vor allem der Alten, in den indigenen Gesellschaften auch das Sterben des kulturellen Wissens mit einhergeht. Denn die Alten sind es, die die Geschichte und Traditionen und Lebensweisen des Volkes kennen.

„Das weitere Betreten der indigenen Gebiete stellt in diesen Zeiten einen neuen Völkermord für unsere Völker dar“, so auch Sonja Guajajara.

 

Abteilung für nicht kontaktierte Völker

Auch die im Februar 2020 durchgeführte Einsetzung von Pastor Ricardo Lopes Dias zum Koordinator der „Abteilung für nicht kontaktierte Völker“ der Indigenenbehörde Funai ist ein klares Zeichen dafür, dass die brasilianische Regierung die Zurückdrängung der indigenen Völker nicht nur billigt, sondern sie sogar vorantreibt. Pastor Dias war zehn Jahre lang für die MNTB, einer in den USA gegründeten evangelikalen Kirche als Missionar in Amazonien unterwegs.

Im Gegensatz dazu sehen CIMI und die DKA-PartnerInnen wie die Comissão Pró-Índio de São Paulo (CPI) ihre Aufgabe darin, die indigenen Völker Amazoniens zu schützen und ihre Art zu leben so zu respektieren, wie sie ist. Mit leichtverständlichen Aufklärungsmaterialien zu Covid-19 war CPI schon Anfang April aktiv geworden. Diese Plakate werden vielfach verteilt, um die Schutzmaßnahmen für die indigene Bevölkerung zu unterstützen (siehe Titelbild).

 

Protestcamp für Landrechte

Ein Novum war heuer auch das erste virtuelle Acampamento Terra Livre (Protestcamp für Landrechte). Dieses jährliche Protestcamp vor dem Parlament in Brasilia findet immer in der Woche der indigenen Völker Brasiliens statt. 2020 war es vom 27. bis 30. April. Die Themen waren, neben Covid-19, der Klimaschutz, der weitere befürchtete Völkermord an indigenen Völkern und vieles andere mehr.

In einem Film, der am Acampamento gestreamt wurde, sind indigenes Leben und der Kampf der indigenen Bevölkerung für ihr Land zu sehen (OFmportUT). Wunderbar, wenn der Film mit der Hymne „Demarcação Já!“ beginnt. Dieses 2017 geschaffene Lied, bei dem es um die Notwendigkeit der Festschreibung der Grenzen des „Indigenenstaates“ geht, damit die Einmischung vom „brasilianischen Außen“ nicht mehr passieren kann und darf.

 

 

Die Stimme der Liebe zum Menschen erhebt sich erneut!

In einem wunderbaren Artikel erhebt der „legendäre“ Leonardo Boff seine Stimme erneut. Das Nachdenken über die Beziehung des Menschen zur Erde, zur Schöpfung, ist über Jahre hinweg der eindringliche Appell, den Leonardo Boff uns allen schenkt. In einem am 28. April 2020 erschienenen Interview auf Brasil de Fato spannt er einen Bogen von der Coronakrise zur Zeit danach, die ökologischer, sozialer, gerechter und geschwisterlicher sein muss. (Selbst die Übersetzung ins Deutsche ist ganz gut gelungen.)

 

Schau selbst nach Brasilien

Zum Schluss möchte ich hier auf die interessante Berichterstattung von Brasil de Fato hinweisen. Diese kritische Stimme aus Brasiliens Medienszene ist es wert, so dann und wann besucht zu werden.

Und für alle nicht Portugiesischsprachigen unter uns: mit englischsprachigen News von BdF oder auch einem Übersetzungsprogramm finden sich Informationen, die sonst schwer zugänglich sind. Ebenso empfehlenswert: die Seite von amerika21.de

 

Ordnung und Fortschritt. Brasilien hat alles, was es für eine menschenwürdige und naturschonende Ordnung und einen ebensolchen Fortschritt bräuchte. Die Hoffnung, dass sich jene Kräfte durchsetzen, die dies ermöglichen, lebt!

 


Quellen

DKA-Projektpartner*innen SER, CPI-SP, DKA-Referentinnen Angela Kemper und Marieta Kaufmann; Npla.de, Brasildefato.com.br, america21.de, der Spiegel, ZDF, arte-tv, kathpress.at

Zusatz

Petition zum Schutz der indigenen Völker Brasiliens in Zeiten von Corona!

Mehr Infos und auch die deutsche Übersetzung des Petitionstextes gibt es hier oder auf arte und im Spiegel.

 

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Der Klopapierlieferant
Luggi Frauenberger

ist im Jungscharbüro für den DKA-Bildungsbereich mitverantwortlich und betreut das Fundraising und die Spezialprogramme Solidareinsatz und Lerneinsatz.