INDIEN - Corona verändert die Welt II

02.06.2021 | von Luggi Frauenberger
Das Land, in dem die Bevölkerung jeden Tag um rund 48.000 Menschen steigt. Das südasiatische Land ist in Zeiten der Corona-Pandemie mit sehr großen Herausforderungen konfrontiert, vor allem auch deshalb, weil die Pandemie die schon vorher dagewesenen Probleme zum Teil enorm verschärft.

Unsere virtuelle Weltreise geht zu unserem nächsten Ziel. Indien!

Wenn wir uns Indien annähern, dann müssen wir eines hinter uns lassen: den Kleingeist. In Indien scheint fast alles groß zu sein. Die Bevölkerungszahl, die Gesamtfläche, die Bürokratie, die religiösen Differenzen, die Feste und die Probleme wie Klimawandel, Armut, soziale Ungleichheit und nicht zuletzt auch die Corona-Pandemie.

 

Thema Nummer eins – die Corona-Pandemie

In den Tagen seit Mitte April 2021 steigt die Zahl der Infizierten und Toten auf neue Rekordhöhen. Über 400.000 Neuinfektionen an einem Tag! Diese Zahl stellt alles Gewohnte in Europa in den Schatten und bringt gleichzeitig auch das indische Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses! Berichten vieler Nachrichtensender zufolge kommt es mittlerweile auch zu Diebstählen von Sauerstoffflaschen aus Krankenhäusern, weil die Menschen in ihrer Verzweiflung keine andere Möglichkeit mehr sehen, sich selbst für die an Covid erkrankten Angehörigen, die überall in Krankenhäusern wegen Überfüllung abgewiesen wurden, das rettende Gas zu besorgen. Die negative Spirale dreht sich damit nur noch schneller, aber es scheint für viele der letzte Hoffnungsschimmer, die erkrankten Angehörigen vor dem Erstickungstod zu bewahren. Am 23. April hat die indische Regierung in Deutschland um die Lieferung von 23 Sauerstoffaufbereitungsanlagen angefragt, um die extrem angespannte Lage bei Sauerstoff zu beruhigen. Selbst der Erzfeind Pakistan hat mittlerweile Hilfe in Form von medizinischem Bedarf angeboten.

 

Parkplätze wurden zu Krematorien

Noch sind uns wahrscheinlich die Bilder von damals aus New York im Gedächtnis, als Kühllaster neben den Krankenhäusern standen, um die Toten aufzunehmen, weil sie nicht alle gleichzeitig beerdigt werden konnten.

In Indien werden nun Parkplätze zu Krematorien umfunktioniert, dort werden all die Menschen, die oft auf der Straße verstarben, weil die Krankenhäuser niemanden mehr aufnehmen konnten, verbrannt. Mehr dazu im Beitrag von DW (unabhängiges, internationales Medienunternehmen aus Deutschland) vom 27.4.

Dass es zu dieser Lage in Indien kommen konnte, ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Zum einen hat sich in Indien die Corona-Mutante B 1.617 entwickelt und verbreitet sich in einem rasenden Tempo. Zum anderen sind viele Menschen in Indien durch Armut, Hunger und medizinische Unterversorgung so geschwächt, dass sie wesentlich anfälliger für Krankheiten sind als andere. Weiters hat die Regierung nach den „Erfolgen der Pandemiebekämpfung“ Anfang des Jahres mit dem Impftempo nachgelassen und gleichzeitig riesige politische wie auch religiöse Treffen zugelassen.

 

Kumbh Mela – das Fest der Unsterblichkeit

Das wohl herausragendste Ereignis ist das Kumbh Mela Fest. Das „Fest des Kruges“ wird einer sehr alten Überlieferung zufolge an den vier heiligen Orten Prayagraj, Haridwar, Ujjain und Nashik abwechselnd gefeiert. 2021 findet das Kumbh Mela in Haridwar am Ganges zwischen 14.1. und 26.5. statt. 

Der Überlieferung zufolge schwappten einst aus dem göttlichen Krug vier Tropfen des Unsterblichkeitsnektars Amrita auf die Erde nieder – an den oben genannten vier heiligen Orten trafen sie auf die Erde. Bei günstigen Stellungen von Sonne, Mond und Jupiter können durch rituelle Waschungen und Bäder im Fluss, abwechselnd an diesen vier Orten, alle Sünden abgewaschen und somit Unsterblichkeit erlangt werden.

Sind in „normalen“ Jahren mehrere zig Millionen Besucher*innen und Pilger*innen bei der Kumbh Mela dabei, so berichtet Normen Odenthal vom ZDF, dass das Fest heuer wegen Corona kleiner ausfallen wird. 10 Millionen sollten es heuer „nur“ sein. Odenthal berichtet uns aus Haridwar.

Interessant ist auch, dass am Beginn der Pandemie im Frühling 2020 eine „größere“ Veranstaltung der Muslime mit rund 300 Menschen und vielen Infektionen all die Ressentiments gegen Muslime dramatisch ans Licht brachte. Im Beitrag der DW vom April 2020 war folgendes zu hören und sehen.

Von Indiens regierender Partei BJP ist leider immer wieder dieses unselige Messen mit zweierlei Maß zu beobachten, und das kann für diesen Vielvölkerstaat nichts Gutes bedeuten. Hinduistische Riesenfeste, Parteiveranstaltungen mit bis zu einer Million Teilnehmenden der BJP und anderer Parteien sind ok – während alles, was muslimisch, christlich oder anders ist, der Grund allen Übels zu sein scheint. Politik, wie sie täglich stattfindet.

 

Die Armen drückt die Pandemie an den Rand der Existenz

Vor wenigen Tagen nahm ich bei einem Online-Meeting mit unserem Projektpartner Fr. Ratna aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh (AP) teil. Er gab uns sehr interessante Einblicke in die Arbeit im Projekt und die neu hinzugekommenen Aufgaben, die es nun zu erfüllen gilt.

Die massive Schließung durch Lockdowns hatte zur Folge, dass bei Navajeevan über Monate hinweg täglich für 4000 Familien Essenspakete verteilt wurden. Zusätzlich wurde täglich für 700 Menschen gekocht, die sonst auf den Straßen der „für indische Verhältnisse kleinen 2-Millionen-Einwohner*innenstadt“ verhungert wären. Der Zustrom der Migranten aus den nördlichen Bundesstaaten ist weiterhin massiv. Das spüren auch die Mitarbeiter*innen von Navajeevan, weil viele, viele Kinder auf dem Bahnknotenpunkt von Vijayawada stranden und dort an Navajeevan übergeben werden, um dort versorgt zu werden.

Rund 150 Familien konnten in der Ziegelproduktion Arbeit finden, wobei die Lebenssituation für diese Familien auch nicht viel besser wurde. In AP steigen die Temperaturen nun während der Monate April und Mai auf über 45°C und das Leben in den Blechhütten wird schlimm. Viele Menschen nehmen Drogen und nicht wenige sehen mittlerweile im Selbstmord den einzigen Ausweg aus dem Elend. Die Selbstmordrate ist in den letzten Monaten stark angestiegen.

„Ein massives Problem, das aus der Armut der Familien heraus resultiert, sind die Kinderheiraten“, so Fr. Ratna. Die Töchter werden verheiratet, um nicht mehr für sie verantwortlich sein zu müssen. Viele Mädchen und junge Frauen landen auch in der Prostitution, in die sie durch Verkauf oder Entführung gelangen.

 

3. Platz für Indien – bei den weltweiten Militärausgaben

Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI hat im Jahresbericht 2020 für Indien den 3. Platz bei den weltweiten Militärausgaben mit 60,1 Mrd. € berechnet.

Der größte Teil der indischen Militärausgaben geht in die Bereiche Militäroperationen, Unterkünfte, Instandhaltung, Gehälter und Pensionen und es ist klar zu sehen, dass die Militärausgaben jährlich steigen.

Da muss die Frage gestellt werden: Warum diese riesigen Militärausgaben, wenn doch so viel Armut und eine miserable Gesundheitsversorgung im Land herrschen? Und diese Frage ist aus mitteleuropäischer wie auch moralischer Sicht schnell erklärt und man neigt zur Antwort, diese hohen Militärausgaben sind falsch eingesetztes Geld! Aber: Indiens Regierung und viele Menschen sehen sich seit vielen Jahren einem immer größer werdenden Druck und zunehmenden Gefahren von außen ausgeliefert.

Geschichtlich gesehen sind da natürlich die beiden muslimischen Nachbarstaaten Bangladesh und auch vor allem Pakistan, die Indien als Feinde bezeichnet. Der Zustrom muslimischer Flüchtlinge aus dem am Bürgerkrieg dahinschrammenden Myanmar, vor allem in den Nordosten des Landes, fördert die antimuslimische Stimmung enorm. Dieser antimuslimische Reflex kristallisierte im Jahr 2020 verabschiedeten neuem Einbürgerungsgesetz. Die Einbürgerung wird nun für Menschen, die aus Pakistan, Bangladesh und Afghanistan kamen und 5 Jahre in Indien leben, viel leichter möglich – vorausgesetzt, sie sind keine Muslime!

Pakistan gilt zudem, weil es, wie Indien auch, Atomwaffen besitzt, als Erzfeind Indiens. Und dieses Pakistan, wie auch der südliche Nachbar Sri Lanka, sind fester Bestandteil des Mammutprojekts Chinas – der neuen Seidenstraße.

Der große Feind im Norden, China, gewinnt immer mehr Einfluss und in Indien herrscht die Angst, dass China Indien von allen Seiten her bedrängen wird. China (zweit größte Wirtschaftsmacht der Welt) hat mit rund 207 Mrd. € mehr als dreimal so hohe Militärausgaben (2020; und steigert diese zum 26. Mal in Folge) und ist mit einer mehr als 4,5-fachen Wirtschaftsleistung gegenüber Indien (fünft größte Wirtschaftsmacht der Welt) weit überlegen. Manchmal scheint es so, als wäre das Einzige, was diese beiden Staaten wirklich verbindet, der Repressionswille gegenüber den Muslimen im eigenen Land.  

Eine kompakte geopolitische Zusammenfassung zum Thema Indien hält das außerordentlich gute Journal MIT OFFENEN KARTEN von arte France in 12-Minuten-Länge für uns bereit.

 

 

Indiens Landwirtschaft steht großen Herausforderungen gegenüber

Indiens Landwirtschaft ernährt in einem unvorstellbaren Ausmaß eine enorm steigende Bevölkerung. Während in den 1950er Jahren noch rund 280 Millionen Menschen zu ernähren waren, sind es heute ca. 1350 Millionen Menschen.

Der enorme Erfolg der „grünen Revolution ab den 1970er Jahren“ hat sich mittlerweile so verflacht, dass die Nahrungsmittelsicherheit Indiens auf dem Spiel steht.

Das System hat mehrere Paradoxien vorzuweisen. Zum einen importiert Indien nur 3,5 Prozent seiner Lebensmittel und exportiert gleichzeitig rund 10,5 Prozent. Millionen von Menschen sind mangel- oder unterernährt oder leiden den größten Teil des Jahres an Hunger.

Während Indien bis 2012 rund 4,6 Millionen Hektar Land an ausländische Firmen verkauft oder verleast hat, ist Indien der drittgrößte Landkäufer oder -leaser der Welt. 7,4 Millionen Hektar Land, vor allem in Afrika, sind so im Besitz oder in der Nutzung durch den indischen Staat oder indische Konzerne. Mit den 2020 beschlossenen neuen Gesetzen zur Vermarktung der Landwirtschaftsprodukte dürfte eine neue Ära in Indiens Landwirtschaft beginnen, vor allem für die Kleinbauern und -bäuerinnen. Vermutlich zu Ungunsten der indischen Bevölkerung, wie Bauernvertreter*innen massiv befürchten.

 

Protestcamps gegen die landwirtschaftliche Misere lassen hoffen

Die von Sikhs begonnenen Bauernproteste gegen die neuen Gesetze, die die Vermarktung der landwirtschaftlichen Produktion Indiens neu regeln sollten, sind nun etwas mehr als 100 Tage alt.

Narendra Modi, der Premierminister, ließ in den vergangenen Monaten die neuen Gesetze einführen, die nach Ansicht der rund 150 Millionen Kleinbauernfamilien Indiens das Ende vieler Landwirtschaften bedeuten würde. Es geht kurz gesagt darum, dass das bislang herrschende System der Vermarktung vor allem der landwirtschaftlichen Produkte Reis und Weizen dem freien Marktsystem weichen sollte. Bislang wurde die Produktion mit einem staatlich garantierten Mindestpreis von den Bauern abgekauft. Die berechtigte Angst der Bauern ist, dass Agrarkonzerne die stabilen Marktmechanismen unterwandern könnten, um in einigen Jahren das Diktat des Preises nach deren Vorstellungen umsetzen zu können.

Seit 30 Jahren hat die sogenannte „grüne Revolution“ dafür gesorgt, dass in Indien die Landwirtschaft „einigermaßen funktioniert“ hat. Durch massiven Pestizid- und Industriedüngereinsatz sind die Ernteerträge jedoch kontinuierlich zurückgegangen, während gleichzeitig die Ausgaben für die Produktion gestiegen sind. Schulden sind für viele Bauernfamilien mittlerweile ein Dauerthema mit teils drastischen Auswirkungen.

 

300.000 Selbstmorde der Schulden wegen  

Hunderttausende Bauernfamilien haben in den letzten 25 Jahren ein oder mehrere Familienmitglieder durch Selbstmord verloren. Der Grund: die Verschuldung der Höfe. Die neuen Gesetze haben allemal das Potential, diesen teuflischen Kreislauf noch zu verschärfen, denn die Einnahmen sind nun nicht mehr garantiert.

Eine dazu im März 2021 entstandene, 25- minütige Dokumentation der arte-Reihe Re: zeigt eine gute Zusammenfassung der aktuellen Situation.

 

 

Farm2Food – ein Partner der Dreikönigsaktion zeigt den Ausweg auf

Im von der DKA Österreich unterstützen Netzwerk commutiny.in entwickelte sich eine äußerst aktive Partnerorganisation im nordöstlichen Bundesstaat Assam, die sich zum Ziel gemacht hat, mit Kindern und Jugendlichen eine Antwort auf die existierende landwirtschaftliche Misere Indiens zu finden.

In praktischen Übungen, wie dem Aufbau von Biogärten in Schulen, lernen die Kids viel über gesunde Ernährung und auch darüber, wie man diese selbst produzieren kann. Mit Hilfe von Wurmkompost, Pflanzenfolge, Beetgestaltung und dem System des Samentausches mit Bauernfamilien in den Dörfern führen die Farm2Food-Aktivitäten zum Erfolg.

Es bleibt zu hoffen, dass die gerade startende Zyklon-Saison 2021 (Zyklon Taukte traf am 19.5. mit 185 km/h bei Mumbai im Westen Indiens auf Land) im Gebiet von Farm2Food im Nordosten Indiens keine Zerstörungen bringt und auch der Brahmaputra im August sein Flussbett nicht verlässt, damit die Ernten eingefahren werden können.

Indiens Probleme sind riesig! Viele Menschen Indiens aber versuchen, diese so gut es geht zu lösen.

 

Noch ein heißer Tipp zum Lesen von indischen Zahlen

Wenn du verschiedene indische Publikationen liest oder Dokumentationen anschaust, dann fallen immer wieder Zahlen auf, die für unser mitteleuropäisches Verständnis nicht leicht zu interpretieren sind. Neben den noch leicht lesbaren Zahlen (in den Klammern ist jeweils die Schreibweise) wie zehn (10), einhundert (100), eintausend (1,000) und zehntausend (10,000) gibt es dann die größeren Zahlen.

  • 1 Lakh entspricht einhunderttausend (1,00,000)
  • 100 Lakh entspricht zehn Millionen bzw. 1 crore (1,00,00,000) und
  • 100 Crore entspricht dann einer Milliarde bzw. 1 arab (1,00,00,00,000)

 


Quellen: WHO, countrymeters.info, wikipedia.org, DW.com, wikipedia.org, sipri.org, DKA-Partner Navajeevan/Vijayawada (AP), arte.tv, milleniumpost.in

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Luggi Frauenberger

ist im Jungscharbüro für den DKA-Bildungsbereich mitverantwortlich und betreut das Fundraising und die Spezialprogramme Solidareinsatz und Lerneinsatz.