Aus dem Vollen schöpfen

29.01.2024 | von Petra Lindinger
„Kreativität“ kommt aus dem Lateinischen „creāre“ = zeugen, erzeugen, schaffen, erschaffen, gebären, hervorbringen – also jede schöpferische Tätigkeit, die Neues hervorbringt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen, bestehende Regeln zu hinterfragen und darüber hinaus zu handeln.

„Ich bin nicht (so) kreativ!“ Das höre ich öfter, wenn ich mit Menschen arbeite. Dabei ist keine*r ohne Kreativität.

Vor Kurzem war ich mit meiner achtjährigen Nichte Emma übers Wochenende unterwegs. Da ich selber keine Kinder habe, nehme ich die Wesensarten der Kinder, mit denen ich zu tun habe, recht unvoreingenommen wahr. Emma ist wie alle Kinder extrem kreativ. An diesem Wochenende, wo sie sehr oft meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Freiheit hatte, sprühte ihre Kreativität. Da wurden selbst erfundene Lieder gesungen, Geschichten erzählt, ihr Einhorn spielte Theater mit ihr und die eine oder andere spontane Aussage brachte alle zum Lachen.

 

Gabe, Talent, Geschenk

Diese Kreativität haben wir alle für unser Leben mitbekommen. Kreativität ist eine Kompetenz, die uns hilft, etwas zu erschaffen, etwas Neues zu entwickeln, eine Idee in die Tat umzusetzen, Nützliches und Brauchbares zu machen. Für mich heißt das auch, dass ich selbst etwas gestalte, das mich zufrieden macht und mir Freude bereitet, weil es da ist, schön ist, von mir geschaffen und mich selbst damit ein ganz klein wenig gottähnlich macht.

 

Menschen schöpfen und entdecken 

Uns Menschen unterscheidet von den Tieren, dass wir über die Suche (z.B. nach Nahrung) hinausgehen in das bewusste Finden. Mit Offenheit, Neugierde, Begeisterung brechen wir auf und entdecken Neues in uns und in unserer Umwelt. Mit Spontanität und Flexibilität (re-)agieren wir in Raum und Zeit und kommen zu eigenständigen, neuen Ergebnissen.

 

Pragmatische und ästhetische Kreativität

Erst einmal ist mir ein Mensch begegnet, von dessen Wohnung ich erschrocken war. Sehr kahl, sehr funktional, keine Dekorationen, keine Farbe, keine Erinnerungsstücke. Es kam mir ein wenig traurig vor. Doch ich weiß von ihm, dass er eine starke pragmatische Kreativität besitzt und in seiner beruflichen Tätigkeit als Physiker schon weltbewegende Ergebnisse im Schiffsbau erzielen konnte.

Bewusster ist uns Kreativität dann, wenn es sich um ästhetische Kreativität handelt, wenn also künstlerische Ausdrucksformen gewählt werden, Werke gestaltet und kulturelle Wahrnehmungen bedient werden.

Für Kinder sind beide Dimensionen in der Entwicklung wichtig und spielen in der sinnlichen Erkenntnis der (Um-)Welt eine große Rolle. Etwas entdecken, es malen, Zusammenhänge hinterfragen, Fantasie entwickeln, etwas bauen …

 

Wo sitzt die Kreativität im Gehirn?

Man schreibt der linken Gehirnhälfte eher die Logik, der rechten eher alles Kreative und Emotionale zu. Am besten „funktionieren“ wir, wenn wir es schaffen beide Gehirnhälften zeitgleich zu aktivieren. Die meisten Tätigkeiten im Alltag erfordern auch beides. Beim Lesen analysieren wir den Inhalt und gleichzeitig entstehen in unserer Phantasie Bilder zum Text. Da im Bereich der Bildung zumeist Logik, verbale und analytische Fähigkeiten gefragt sind, neigen Menschen dazu, ihre Intuition, ihre Kreativität, Fantasie und Emotionen hintanzustellen. Über die Jahre verlieren viele den Bezug zu ihrer Kreativität.

 

(Wieder-)Entdeckung der Kreativität

Kreativität lässt sich nicht so einfach trainieren wie eine Sprache oder eine Technik. Aber Kreativität lässt sich entdecken, freisetzen und ausbauen. Beginne damit wahrzunehmen, dass und wie du kreativ bist. Mache weiter, indem du für dich oder mit anderen in einen kreativen Prozess trittst z.B. in unbeschwerter Runde, wo „der Schmäh rennt“ und alle sich daran beteiligen schöpferisch zu denken. Schließlich fehlt noch der Schritt, das Überlegte auch in ein Werk umzusetzen, Sätze zu formulieren, etwas zu bauen, zu zeichnen, zu malen oder zu layoutieren.

 

In den Flow kommen

Der Entdeckungsprozess beim Schöpfen bringt auch auf emotionaler Ebene etwas hervor. Wenn man sich ganz in ein Werk hinein vertieft, kann ein Hochgefühl entstehen, ein Glücksgefühl, Freude, Begeisterung. Man vergisst die Welt um sich und ist voll im Flow.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ – ein Ausspruch von Jesus – könnte heute heißen: „Wenn ihr nicht in den Flow kommt…“

 

Damit man in den Flow kommt, braucht es:

  • konzentriert sein auf das eine Tun
  • an die eigenen Grenzen gehen
  • sich aber nicht überfordern
  • Raum und Zeit vergessen

 

Wenn wir im Flow sind, dann:

  • haben Sorgen keine Kraft
  • haben negative Gedanken keine Chance
  • haben wir keine Angst zu versagen
  • vertrauen wir auf unsere Fähigkeiten und Stärken
  • sind wir ganz im Hier und Jetzt

 

Bei uns ist es (noch) oft so:

  • Arbeit ist Pflicht.
  • Wir haken unserer To Do-Liste ab.
  • Das Müssen steht ständig im Vordergrund.
  • Hauptsache aktiv sein.
  • Wir müssen gut dastehen.

 

Doch es geht auch so:

  • Aus dem „muss“ mache ein „Ich will" (z.B. lernen)
  • Handle selbstbestimmt. 
  • Lass die anderen denken/reden, was sie wollen.
  • Stelle Gewohntes in Frage.
  • Fülle bewusst Zeit mit Nichts. 

 

„Gib mir einen Punkt außerhalb der Erde, auf dem ich stehen kann, so will ich sie bewegen.“

Archimedes

 

Kreativ als Gruppenleiter*in

Als Gruppenleiterin ist es eine Herausforderung der eigenen Kreativität auf die Spur zu kommen und der Kreativität der Kinder und Jugendlichen zur Entfaltung zu verhelfen. Fast alle Kinder sind gerne schöpferisch tätig. Gerade jüngere sind (noch) weltoffen, neugierig, wissbegierig und voller Fantasie. Im freien Spiel rattert das kreative Gehirn und entwickelt, schöpft und lernt.

Durch Beurteilung von außen, durch Pädagog*innen und auch durch dich als Gruppenleiter*in, kann die Schöpfungskraft einen Dämpfer bekommen – durch Kritik, durch „Drüberarbeiten“, durch zu viel Hilfe, durch zu wenig Zeit (unterschiedliche Menschen sind unterschiedlich schnell), durch vorgefertigte Schablonen und fehlendes Zutrauen. Kinder brauchen eine gute Mischung aus Ermutigung und Lob, Rückfrage und Ansporn, Freiraum und Anerkennung.

Und manchmal bleibt das Genie eines Werkes, das außerhalb der „Norm“ liegt, eben (noch) unentdeckt. 

Ein paar Fragen an dich:

  • Gehst du neue Wege statt „Das haben wir schon immer so gemacht!“
  • Lässt du dich begeistern?
  • Sind alltägliche Aufgaben für dich bunte Herausforderungen?
  • Wie träumst du deine Zukunft?
  • Malst du dir Geschichten in deiner Fantasie in Bildern aus?
  • Umschreibst du ein Thema mit vielen Worten?

 

„Was immer du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es. Kühnheit besitzt Genie, Macht und magische Kraft. Beginne es jetzt.“

Johann Wolfgang von Goethe

Petra Lindinger

ist Dipl. Kreativtrainerin, arbeitet bei der Katholische Jugend OÖ und ist ehrenamtlich im Dienste der MinistrantInnen aktiv.