Mein Opa ist ein Grenzgänger!

06.05.2020 | von Monika Spiekermann
Auf der Flucht im Zweiten Weltkrieg, im Flüchtlingslager in Österreich, beim Verlieben und Heiraten: mein Opa ging schon an viele Grenzen - und einige überschritt er auch!

Einleitung

Was sind Grenzgänger denn eigentlich? Ich würde sagen, Grenzgänger und Grenzgängerinnen sind Menschen, die an ihre Grenzen gehen oder auch über ihre angenommenen Grenzen. Es gibt ja mehrere Arten von Grenzen. Zum Beispiel gibt es geographische Grenzen, also Landesgrenzen, und es gibt körperliche und psychische und auch soziale Grenzen.

Sigrid schlug in ihrer Gruppenstunden-Idee zum Thema „Alltagsgeschichten“ vor, andere Leute aus der Pfarre oder dem Ort zu interviewen und sie so besser kennenzulernen. Das hab ich ausprobiert! Ich habe ein Interview mit meinem Opa geführt zum Thema Grenzgänger, weil er schon sehr oft in seinem Leben an seine Grenzen gegangen ist und auch so manche Grenze überschritten hat!

 

Interview

Monika: Wenn ich an deine Erzählungen aus deinem Leben denke, Opa, fallen mir viele Grenzerfahrungen ein. Du bist in Morawitz in Rumänien, direkt an der geographischen Grenze zum damaligen Jugoslawien, aufgewachsen. Weil du Donauschwabe bist und so zur deutschen Minderheit in Rumänien gehört hast, musstest du 1944 mit deiner Familie gegen Westen fliehen und deine Heimat zurücklassen. Bei der Flucht hast du geographische, psychische und körperliche Grenzen erlebt. Auch später, als du als Vertriebener in einem Flüchtlingslager in Österreich gelebt hast, Hunger gelitten hast und schlecht behandelt wurdest, da bist du an deine Grenzen gegangen. Ja, und viele Jahre später, da kam dann eine weitere herausfordernde, aber auch schöne Grenzerfahrung auf dich zu, nämlich eine soziale Grenze: Du, ein „wilder Lausbua“ aus einfachen, ärmlichen Familienverhältnissen hast dich in eine junge Frau aus wohlhabendem, konservativem Hause verliebt… Und ihr habt sogar geheiratet und euch durch Fleiß und Schuften einen gewissen Wohlstand erarbeitet. Da hast du aber wirklich eine soziale Grenze überschritten!

So, fangen wir von vorne an! Als Kind, also bis zu deinem 16. Lebensjahr, hast du in Morawitz, einem kleinen Dorf in Rumänien gelebt. Morawitz lag ganz nah an der Grenze zu Jugoslawien. Hast du diese Landesgrenze als Kind wahrgenommen?

Opa Matzi: Ja, diese Grenze hab ich wahrgenommen. Wahrgenommen und auch überschritten. Zum Beispiel 1944, da sind die russischen Truppen immer näher zu unserem Dorf gekommen und da hat das deutsche Militär uns dazu veranlasst, dass wir flüchten. Da sind wir in der Nacht Hals über Kopf losgezogen, mit Ross und Wagen, und sind über die jugoslawische Grenze gezogen. Ab diesem Zeitpunkt waren wir Flüchtlinge.

 

Monika: Nach der langen Flucht seid ihr in Österreich angekommen. Du warst da 15 Jahre alt und dann wurdest du hier in Österreich zum Militär eingezogen. Beim Militär wurdest du mit psychischen und physischen Grenzen konfrontiert. Zum Beispiel haben dich die Offiziere auf Grund deines donauschwäbischen Dialekts schikaniert und schlecht behandelt, sie haben also deine persönliche Grenze überschritten. Daraufhin warst du traurig und wütend und dann hast du – ganz bewusst – eine Grenze überschritten…

Opa Matzi: Genau, ich habe eine Grenze überschritten! Ich hab' immer wieder versucht nach der Schrift zu reden, aber ich hab' das nicht geschafft. Immer wieder hab' ich Wörter gesagt, die die anderen lustig fanden. Dann haben mich die Offiziere ausgelacht. Das hat mich ganz, ganz traurig gemacht und mich sehr bedrückt. Ich hab' geglaubt, wenn man beim Militär ist, dann sind alle gleich, weil es hat' ja geheißen: „Einer für alle, alle für einen!“. Aber ich hab' nicht dazu gehört, ich war dort ein Außenseiter. Da hab' ich mir geschworen: Wenn ich aus dieser Kaserne raus komm, dann werde ich flüchten, ich lass mir das nicht bieten!

Eines Tages, in der Früh, als die Russen schon ganz nahe bei der Kaserne waren, da wurden 18 Mann gepackt und wir mussten augenblicklich weg. Wir sind dann zum Zug, zu einer Schmalspurbahn, irgendwohin. Ich hatte eine gute Orientierung und hatte das Gefühl, es geht Richtung Westen. Und ich hatte mir immer noch fest vorgenommen: Ich werde flüchten! Ich war ein freiheitsliebendes Kind, und beim Militär, da hatte ich keine Freiheit, da musste ich folgen! Als wir dann in einen Sackbahnhof eingefahren sind, da ist ein Zug am Gleis gegenüber losgefahren. Ich hatte nichts anderes im Kopf als zu flüchten! Drum bin ich auf diesen Zug drauf gesprungen, auf einen Kohlenwaggon, und hab mich versteckt. Der Offizier hat mich dabei gesehen, hat die Pistole gezogen und hat geschrien, dass der Zug stehen bleiben soll, aber der Zug ist immer schneller geworden – und ich immer glücklicher.

 

Monika: Beim Militär durchzugehen, das war ja verboten! Da drauf stand sogar die Todesstrafe! Und du, Opa, du warst ja Deserteur. Hattest du dann auch Angst?

Opa Matzi: Beim Desertieren und beim Flüchten, da hatte ich keine Angst. Die Angst hab ich erst gekriegt, als wir in Ennsdorf an die Brücke kamen. Da mussten wir über die Brücke nach Enns, also wieder eine Grenze, und da stand die Militärpolizei, „Kettenhunde“ hat man die genannt. Und auf der Ennsbrücke, da hing ein deutscher Soldat am Strick, mit einem Pappendeckel um den Hals und da stand drauf: „Wegen Feigheit vor dem Feind.“ Da hatte ich dann richtig Angst! Weil wenn sie mich erwischt hätten, dann wär‘s ja auch mir so gegangen!

 

Monika: Nach der kurzen Zeit beim Militär hast du deine Familie wieder gefunden und ihr habt lange in einem Flüchtlingslager gelebt. Euer Unterschlupf waren einfache Erdhütten und weil ihr kein richtiges Essen hattet, habt ihr euch hauptsächlich von Brennnesseln ernährt. Heute kann ich mir das gar nicht vorstellen. Wie war das Leben im Lager damals für dich?

Opa Matzi: Also die Erdhütten, das war einfach ein gegrabenes Loch in der Erde: 4m breit, 8m lang, 1m tief, mit Reisig, Laub und Erde bedeckt. Weils im Sommer geregnet hat, ist die Erde völlig aufgeweicht und dann hat‘s immer von der Decke runter in unsere Behausung getropft.

Das Leben in den Erdhütten war traurig, ich hatte viel Hunger. Mit 16 Jahren, da hat man ja viel Hunger! Und weil wir Flüchtlinge waren, haben wir keine Unterstützung und keine Lebensmittelkarte in Österreich bekommen. Drum haben wir uns hauptsächlich von Brennnesseln und Bärlauch ernährt. Das hat die Mutter zu einem Brei gekocht und damit haben wir uns den Bauch vollgegessen. Nach einigen Monaten haben wir dann Lebensmittelkarten bekommen und dann ist es uns besser gegangen. Aber satt waren wir noch lange nicht. Für eine Person gab es gleich nach dem Krieg ein halbes Kilo Brot pro Woche. Geld hatten wir zwar genug, aber es gab einfach nix zu kaufen.

Was man als Mensch durchhalten kann, das weiß ich! Ich bin heute 90 Jahre alt und habe Hunger und so schlechte Zeiten mitgemacht, aber ich hab' durchgehalten! Ein junger Mensch heutzutage, der weiß gar nicht, was Hunger heißt! Heute kennen die Leute ja nur Appetit, und dann isst man eben was. Aber wenn man Hunger hat und isst, und den Bauch mit Brennnesseln und Bärlauch anfüllt, dann ist der Hunger nach ein paar Stunden ja wieder da! Und man lebt mit dem Hungergefühl, man träumt in der Nacht vom Hunger und vom Essen, und man hat immer Hunger!

Im Herbst, als die Kartoffeln reif waren, da sind wir dann Kartoffeln stehlen gegangen. Das ist natürlich verboten, aber der Hunger macht das dann! Und wir haben dann auch Kartoffeln gestohlen und den Gefangenen im Gefangenenlager über den Zaun geworfen! Weil denen ist es ja noch schlechter gegangen als uns, und da wollten wir denen was Gutes tun! Das war eine richtige Genugtuung für uns! Ja, das war Diebstahl. Aber heute bereue ich nicht diesen Diebstahl begangen zu haben, das würde ich in diesem Fall sogar wieder machen!

 

Monika: So, Opa, als abschließendes Grenz-Thema möchte ich noch auf dein Kennenlernen und Zusammenleben mit Oma eingehen. Du sagst ja oft, dass du früher ein Lausbub warst und ein schlechter Schüler und immer viele Abenteuer im Kopf hattest. Und dann kam ein besonderer Moment in deinem Leben – du hast dich nämlich verliebt. Du, der „wilde Lausbua“ aus einfachem Hause, hast dich beim Tanzen in die brave, wohlerzogene Tochter eines wohlhabenden donauschwäbischen Bauern und Geschäftsmanns verliebt. Am Anfang hast du ja gar nicht glauben können, dass dich diese junge Frau auch attraktiv findet und dich mag. Ihr habt dann aber wirklich geheiratet! War das Verlieben und Heiraten eine Grenzerfahrung für dich? Bist du da an deine Grenzen gegangen?

Opa Matzi: Ja, also ich war wirklich erfreut, dass so ein braves Mädchen meine Annäherungsversuche zugelassen hat! Und da ich ein Stritzi war, hab ich ihr einmal beim Abschied sogar ein Bussi auf die Wange gegeben! Ich hatte mir als junger Bursch ja eigentlich vorgenommen, nie im Leben zu heiraten. Aber als ich dann die Oma kennengelernt hab', da hab' ich mich dann doch verliebt und zum Heiraten entschlossen! Da bin ich wirklich über meine eigenen Grenzen gegangen! Und heute bin ich stolz und glücklich, dass ich meine Frau damals kennengelernt habe! In diesen braven Haushalt reinzukommen, da hab' ich mir wirklich schwer getan, mich da anzupassen. Da bin ich dann auch wieder weit über meine Grenzen drüber gegangen! Aber es hat sich ausgezahlt!

 

Monika: Wie schaust du jetzt im Nachhinein auf dein Leben zurück? Würdest du wieder an deine Grenzen gehen und auch manche Grenzen überschreiten?

Opa Matzi: In mancher Hinsicht, ja, in mancher Hinsicht nein. Aber im Großen und Ganzen, ja! Ich würde mein Leben wieder so machen! Ich glaube, es gibt wenige Menschen, die mit 90 Jahren so zufrieden sind wie ich!

Monika: Opa, ich danke dir ganz herzlich für das Gespräch! Schön, dass du so gern von deinem Leben erzählst und uns Junge an deinen Erfahrungen teilhaben lässt! Ich freu mich, dass du so ein zufriedener Mensch bist und auch mich mit deinen Lebensgeschichten und deiner Weisheit geprägt hast! Danke!

 

Auch heute noch gehen Oma und Opa an ihre Grenzen: hier beim FridaysForFuture #Netzstreik fürs Klima im April 2020.

Lust auf mehr?

Hier geht's zum Original-Interview mit Opa Matzi.

 

Monika Spiekermann

hat in Enns eine klassische Jungschar-Karriere zurückgelegt und ist jetzt begeistert im voll.bunt Arbeitskreis dabei.